Gelesen: Harlan Ellison, „Ich muss schreien und habe keinen Mund: Erzählungen“

Es gibt einen Begriff, der meine Erfahrung mit den gesammelten Erzählungen von Harlan Ellison sehr treffend beschreibt, und das ist „literarisches Stockholm-Syndrom“.

Frei nach Winston Churchill erwartet einen in diesen Geschichten „nichts als Blut, Mühsal,Tränen und Schweiß“. Das ist also keine Lektüre, die man leichtfertig beginnen sollte. Dennoch bereue ich es nicht, bis zum Ende, trotz der Qualen, durchgehalten zu haben.

Neben der Erkenntnis, dass der Wert eines Erfolges sich vor allem durch die geleisteten Anstrengungen und Mühen definiert, gab es aber auch Momente, in denen sich Momente herauskristallisierten, in denen sich eine ganz besondere Qualität zeigte. Nicht unbedingt die zuweilen rücksichtslose Härte gegen die Charaktere und den Leser, sondern die Momente, in denen die Charaktere aus der Rolle des hilflosen Opfers in die Rolle des zurückschlagenden, kämpfenden Wesens kippen. Sie werden damit zwar ebenfalls ein Teil des Bösen, aber die Geschichten verlieren damit ihre deprimierende Hoffnungslosigkeit.

Ich lese diese Sammlung als E-Book und an dieser Stelle gibt es ein weiteres Ärgernis: das fehlende Inhaltsverzeichnis. Dieses E-Book hätte etwas mehr Liebe und Aufmerksamkeit vertragen können, als einfach nur den Text der Printausgabe in ein E-Book umzuwandeln. Das Medium Papierbuch und das Medium E-Book haben kleine, aber feine Unterschiede. Der Verzicht auf ein Inhaltsverzeichnis lässt sich ein einem Papierbuch deutlich besser kompensieren, ist aber im E-Book eine sehr ärgerliches Manko. Zumal es sich hier um eine Sammlung von Einzelgeschichten handelt und nicht um einen zusammenhängenden Roman.

Aber nun genug der Entschuldigungen. Es gibt einen Punkt, an dem meiner Meinung nach die Lektüre kippt. Oberflächlich betrachtet mag das die Kurzgeschichte „Ich suche Kadak“ sein, aber ich denke es passiert eine Geschichte vorher in „Todesvogel“. Hier passiert genau das, was ich schon erwähnt hatte: Der weibliche Hauptcharakter verlässt die Rolle des hilflosen Opfers und begibt sich auf die dunkte Seite der Welt, auf die Seite derjenigen, die kämpfen, die selber Böses tun.

Keine sonderlich edle Sache, aber ein wichtiger Wendepunkt, meiner Meinung nach. Und ich vermute das dokumentiert auch einen bedeutenden Wendepunkt im Leben und im Charakter des Autors Harlan Ellison. Seine Geschichten werden deutlich heiterer. Ja stellenweise sogar fast albern und klamaukig. Eine weitere wichtige Lektion oder Erkenntnis, die man aus dem Buch ziehen könnte: Mit Humor ist vieles erträglicher.

Ein Wort möchte ich noch zur letzten, preisgekrönten Geschichte „Mephisto in Onyx“ verlieren. War das wirkliche seine beste Gesichte? Die Wendung zum Schluss überzeugt mich nicht wirklich. Das mag an der Übersetzung liegen, aber ich vermute eher das mir der auftriumphierende Aufstieg des Phönix aus der Asche nicht gefallen hat, weil es der Autor es sich hier vielleicht etwas einfach gemacht hat. Etwas differenzierendes Feingefühl hätte diese Geschichte zu einem wahrlichen Harlan Ellison gemacht. Vielleicht war der Autor das Durchleben von Leid einfach nur Leid. So wie dem Autor dieser Rezension.

In Summe bleibt aber das Gefühl einem Meister des Erzählens gelauscht zu haben. Es gab wirkliche Momente des Staunens, auch wenn der Autor dem Leser nichts schenkt, sondern harte Arbeit vom Leser einfordert. Es ist keine Lektüre, die man leichtfertig beginnen sollte, aber warum besteigt man einen Berg? Weil er da ist. Aber man muss es trotz der tollen Aussicht vom Gipfel nicht zweimal machen.

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