Welten an Drähten und wahre Namen 160, Rücksprung in die Realität

Nein, ich steige nicht aus den virtuellen Welten aus – ich wollte nur die Gelegenheit nutzen, mal etwas über „Nicht-Reale“ Welten zu sinnieren. Anlass ist ein Ereignis, das ich für fast unmöglich gehalten, aber doch für eine tolle Sache halte:

Kirsten Riehl und Thorsten Küper stehen mit „Was läuft noch in Sachen Literatur auf SecondLife?“ im Börsenblatt.

Meiner Meinung nach vollkommen verdient. Als Zaumgast und jemand, der selbst mal bei den Brennen Buchstaben lesen und mitlesen durfte, bin ich der Meinung den Einsatz der beiden kann man nicht genug loben und würdigen. Da steckt eine ganze Menge Engagement und Leidenschaft hinter den Lesungen im virtuellen Raum.

Das Wort „virtuell“ selbst wird gerne missverstanden. Virtuell ist etwas, wenn es nicht physikalisch vorhanden ist, aber dennoch seine Funktion und Wirkung entfaltet. Und genau das machen die Lesungen, Treffen der SL-Schreibgruppe oder die anderen unzähligen Events im Virtuellen.

„Die Hardware ist virtuell, aber ab dem BIOS ist der Rest real.“ Dieser Satz gilt für mich seit über 16 Jahren bei der Virtualisierung in der IT-Branche. Man mag darüber streiten ob Software real ist, aber das könnte man dann auch bei vielen physikalischen Größen tun. Vieles erkennt man nur anhand seiner Wirkung. Auf die Lesungen im Virtuellen bezogen: Das Lampenfieber vor der Lesung ist echt und sehr real. Man liest vor realen Menschen, auch wenn man nur ihren Avatar sieht. Wenn Kommentare im Textchat kommen, sind diese so real oder unreal wie die Kommentare, die man während einer Lesung im realen Raum nach der Lesung oder hinter vorgehaltener Hand hört. Und nicht zuvergessen die fleißigen Hände im Hintergrund, die im realen Raum die Bestuhlung machen, das Lesepult aufbauen und vielleicht sogar den Raum passend dekorieren: Im Virtuellen steckt hinter den Lesungskulissen eine reale Person, die mindestens genau so viel Arbeit mit der Lesungsumgebung hat, wie die Leute, die reale Lesungen vorbereiten.

Zwischen virtuellen und realen Lesungen gibt es zwei Unterschiede. Ersten man muss sich immer das Glas Wasser für die Lesung selbst hinstellen, dafür ist man – nach Überwindung der ersten Anlaufschwierigkeiten – mit einem Mausklick in der Lesung.

Eine Stunde kann für den Anlauf knapp werden, besser ist es man probiert diese neue und ungewohnte Umgebung deutlich früher aus. Eine Livelesung ist an sich schon spannend genug. Besucht einfach mal vorher eine Lesung der Kollegen und schaut euch das Prozedere in Ruhe an. Aus eigener Erfahrung: Ohne halbwegs ordentliche Hardware kann es krampfig werden, es ist nun mal eine 3-D-Umgebung und dafür benötigt man ein System, das ein gewisses Minimum an Grafikleistung mitbringt.

Aber nun genug zur Technik und kommen wir zu etwas wirklich Schockierendem: Die Geschichten selbst sind immer virtuell. Die hat sich jemand ausgedacht und zu Papier gebracht – egal ob das Papier jetzt real oder virtuell ist. Obwohl keine physikalische Entität, entfalten diese Geschichten ihre Wirkung.

Wenn diese Geschichten den gut geschrieben sind, entführen sie den Leser in ihre ganz eigenen Welten. Jeder Roman ist Fiktion, so vertraut einem diese Welt auch vorkommen mag, die sich im eigenen Kopf gebildet hat. Virtuelle Welten sind also eine uralte Sache, sie reichen bis zu dem Zeitpunkt zurück, an dem die erste ausgedachte Geschichte erzählt worden ist. Ob es da schon ein Lagerfeuer gab? Wer weis.

Die Welt wäre jedenfalls ein trauriger und ärmer Ort ohne sie. Ob nun auf einen realen oder virtuellen Trägermedium. Toll wäre es, wenn die realen Kreativen auch real für ihre Mühen be- und entlohnt werden. Auf gut deutsch: Lobt die Autoren und kauft ihre Bücher, wen euch die Lesung gefallen hat! Mir ist jedenfalls noch kein virtueller Schriftsteller begegnet …

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